Bei der Einführung agiler Arbeitsweisen geht es angesichts zunehmender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität schon lange nicht mehr um das ob, sondern um die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen Agilität Nutzen stiften kann. Bei den Überlegungen dazu – so viel vorab – ist uns das Bild eines Verbrennungsmotors durch den Kopf gegangen: ein entscheidendes Konstruktionsmerkmal des Motors ist, dass sowohl der Zylinder als auch der Kolben aus stabilem Material sind. Wären sie instabil, würde die Kraftübertragung von der Explosion des Luft-Gas-Gemisches auf die Kurbelwelle ganz oder teilweise scheitern. So ist es auch in unternehmen: agile Arbeitsweisen setzen Energie frei und damit die Energie nicht verpufft, braucht es stabile und verlässliche Mechanismen und Prozesse, die die freigesetzte Energie im Interesse der Unternehmensziele kanalisieren.
Agilität ist neben Digitalisierung immer noch eines der Schlagworte überhaupt. Agile, Kanban und Scrum als Werkzeuge sind seit rund einem Jahrzehnt im Trend – obwohl die Ursprünge von Agile bereits in den 1970ern zu finden sind. Belastbare Zahlen, Daten und Fakten über den Verbreitungsgrad finden sich vor allem bei den Ausbildern der genannten Methoden - eine führende Scrum-Ausbildungsorganisation gibt beispielsweise an, bis heute mehr als 750.000 Personen in Scrum-Rollen zertifiziert zu haben. Demnach müsste die Methode inklusive Arbeitsweise und Philosophie weit verbreitet sein und die Ziele, die sich Unternehmen von der Einführung von Agilität als Mittel zum Zweck versprechen, erreicht werden. In der Presse sind Schlagzeilen wie „wir arbeiten jetzt auch agil“ nicht selten – messbare Verbesserungen in Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, Flexibilität, Geschwindigkeit werden dabei jedoch weniger häufig vermeldet, zumindest von großen und etablierten Unternehmen. Ganz anders Start-Ups, Kreativagenturen oder Digitalgaragen. Sie feiern und vermelden solche Erfolge, egal ob sie selbstständig oder als abgekapselter Teil eines großen Unternehmens agieren. Das Gesamtbild ist also recht heterogen und daraufhin haben wir, um etwaige Muster zu erkennen, folgende Fragen untersucht:
Die für Unternehmen richtige Anwendung von Agilität lässt sich nicht mithilfe einer Formel berechnen, denn sie kann sich über die Zeit hinweg verändern. Das kann dazu führen, dass Unternehmen beim Einsatz von Agilität unter- oder übersteuern, das heißt entweder alle Arbeitsweisen agil machen wollen oder nur einzelne, besonders wichtige Projekte auswählen. Häufig führt weder das eine noch das andere zum Erfolg.
Um mögliche Anwendungsfälle zu identifizieren, lohnt es sich, die unterschiedlichen Aufgabenstellungen der Gesamtorganisation, die im End-to-End-Wertstrom anfallen, vier Clustern zuzuordnen.
Abbildung: Cluster Anwendungsfälle Agilität
Sehen wir uns die einzelnen Felder genauer an:
a) Einfache Aufgabenstellungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass Ursache und Wirkung bekannt und stabil sind. Häufig kennen wir good practice-Ansätze, wie diese Situationen gelöst oder verbessert werden können. Das Archivieren von Dokumenten oder die Optimierung einer 1st-Level-Telefonie gehören zu diesem Anwendungsfeld.
b) Komplizierte Aufgabenstellungen sind in unserem Arbeitsalltag häufig vorhanden und unterscheiden sich von einfachen Aufgabenstellungen dadurch, dass Lösungsalternativen nicht intuitiv sind. Lösungsansätze zu finden bedarf vielmehr einer mehr oder minder aufwändigen Suche und Analyse von Ursache-Wirkungsbeziehungen.
Die Verkürzung der Zeit, in der beispielsweise IT-Tickets gelöst werden oder die Optimierung chemischer Reaktionen zur Anwendung in Massenproduktion sind Beispiele für komplizierte Aufgabenstellungen.
c) Komplexe Aufgabenstellungen nehmen immer mehr zu – sie entstehen unter anderem aufgrund der VUCA-Umwelt1 und sind deutlich schwieriger einzuschätzen als komplizierte. Das Grundmuster von Ursache und Wirkung können wir höchstens ex-post oder in Experimenten beobachten, nicht genau wissend, ob sich daraus stabile Aussagen für die Zukunft ableiten lassen. Insofern können Experimente nur Hinweise für Lösungen ergeben.
Die Entwicklung eines neuen Vorsorgeproduktes ohne Kenntnis der künftigen Kundenforderungen oder Regularien würde den komplexen Aufgabenstellungen zugeordnet werden.
d) Chaotischen Aufgabenstellungen begegnen wir im Arbeitsalltag eher selten. Sie kennzeichnen sich dadurch, dass nicht bekannt ist, ob es einen eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gibt und ob er wiederholbar ist. Die Parameter sind instabil, vielleicht sogar unbekannt und erschweren es, eine hinreichend verlässliche Lösung zu entwickeln.
Die mittelfristige Wettervorhersage ist ein Beispiel für eine chaotische Aufgabenstellung, ebenso die Gewinnerzielung aus der Spekulation mit Aktien.
Grundsätzlich ist in jedem der vier Felder der Einsatz von Agilität möglich, allerdings unterscheidet sich der Grad der Wirksamkeit. So ist die Steigerung der Effektivität durch den Einsatz von agilen Praktiken, Methoden oder Organisationsmodellen deutlicher spürbar, wenn Kausalitäten unbekannt sind. Wenn Sie entscheiden, dass Agilität das Mittel der Wahl ist, um Probleme zu lösen, sollten Sie sich allerdings auch bewusst sein, dass es bei Agilität auch ein Über- oder Untersteuern gibt. Beides kann die Zielerreichung negativ beeinflussen.
Im Falle des Übersteuerns werden selbst einfachste Aufgabenstellungen mit agilen Methoden oder Praktiken überfrachtet und führen unter Umständen zu Doppelarbeiten oder längeren Durchlaufzeiten.
Ein Beispiel aus unserem Alltag wäre beim Zähneputzen erst nur die Backenzähne links unten zu putzen, dann auszuspülen und zu bewerten, ob die Zähne schon sauber genug sind, um aus dem Haus zu gehen. Die Beurteilung würde negativ ausfallen und als nächstes wären die Backenzähne rechts unten dran, ausspülen, erneut bewerten, und so weiter. Die Zähne wären nach diesen Iterationen auch sauber, aber der gesamte Vorgang dauert wahrscheinlich um einiges länger und verbraucht mehr Wasser und Zahnpasta. Im Arbeitsalltag kann eine solche Verhaltensweise auf Dauer zu Frust führen, weil die Sinnfrage – warum soll ich Iterationen nutzen beziehungsweise welchen Nutzen bringt die iterative Vorgehensweise – nicht zufriedenstellend beantwortet werden kann.
Untersteuern könnte genauso als „zu wenig“ Agilität bezeichnet werden. Der erste Impuls, der häufig zum Untersteuern führt, ist der Wunsch nach schnell sichtbaren Ergebnissen. Deshalb werden lediglich die rasch umsetzbaren Praktiken in Betracht gezogen und oftmals ohne Hinterfragen in den Arbeitsalltag integriert. Sicher kennen auch Sie ein konkretes Beispiel, in dem ein Stand-up Meeting eingeführt wurde, um agil zu sein, die Inhalte und Vorgehensweise innerhalb des Meetings aber gleich geblieben sind. Und nach vier Wochen wurde das Meeting nicht mehr im Stehen, sondern wieder im Sitzen durchgeführt und dauerte auch wieder länger als die ursprünglich angesetzten 30 Minuten. Dahinter ist ein Muster erkennbar: wenige Führungskräfte und Mitarbeiter werden in einzelnen Methoden wie Scrum ausgebildet und sollen mit diesem neuen Know-how schnelle Ergebnisse erzielen. Die dahinterliegenden Werte und Prinzipien lassen sich aber erstens nicht so schnell vermitteln und zweitens noch langsamer in bestehenden Strukturen integrieren. Neben dem Wissen um Methoden und Werkzeuge braucht es auch die Bereitschaft, etablierte Paradigmen, Prozesse und Strukturen im Unternehmen zu ändern. Ein Beispiel: Sie haben agile Teams zur Produktentwicklung mit Scrum Master und Product Owner installiert und trotzdem werden die Projekte nicht schneller abgeschlossen als zuvor. Möglicherweise konnten die Teammitglieder nicht ihre volle Zeit und Aufmerksamkeit dem Projekt widmen, weil sie noch projektfremde Aufgaben erledigen mussten oder der Sprint-Backlog wird ständig durch zusätzliche Aufgaben erweitert und neu priorisiert. Zwei essentielle Werte von Scrum, nämlich Fokus und Commitment, werden dadurch verletzt und resultieren in den bekannten langen, jetzt vielleicht sogar längeren Projektlaufzeiten und zusätzlicher Frustration bei den Beteiligten.
Um Über- oder Untersteuern zu vermeiden, ist es notwendig, ein gemeinsames Verständnis als Voraussetzung für den Erfolg zu schaffen, denn ohne vereinte Kraft wird aus Agilität schnell ein verbranntes Buzzword. Zum gemeinsamen Verständnis gehören agile Werte – bewusst gewordene Grundannahmen über das, was wir als gut bezeichnen – und daraus abgeleitete Prinzipien. Prinzipien verstehen sich nicht als Regel, da sie keine Verbote aussprechen, sondern eher als Leitlinien für das eigene Verhalten und durch impliziten Ausschluss von nicht gewünschtem Verhalten. Im agilen Manifest2 sind vier Werte und zwölf zugehörige Prinzipien festgehalten, die aufzeigen, welches Verhalten gewünscht ist, ohne konkret zu werden.
Abbildung: Werte aus dem agilen Manifest
Abbildung: Auszug aus den Prinzipien des agilen Manifests
Die Konkretisierung hängt vom jeweiligen Team ab, da nur das Team festlegen kann, wie viel Agilität und in welcher Ausprägung sinnvoll ist. Daher ist eine weitere Voraussetzung die Fähigkeit zur ständigen Veränderung. Dazu gehört der Mut, eine Hypothese aufzustellen und zu testen sowie der reflektierte Umgang mit Fehlern.
Die Steuerung von Agilität erfordert nicht nur das Selbstverständnis der Organisation oder einzelner Einheiten, sondern auch ganz konkret die Anpassung von Steuerungssystemen, angefangen bei Kennzahlen, die für gesamte Teams statt Einzelpersonen gelten bis hin zu Leitungsgremien, die durch selbstorganisierte Teams und dezentrale Entscheidungen ihre Aufgaben (und auch Daseinsberechtigung) neu definieren müssen. Letztlich bedarf es aber weniger der Steuerung im herkömmlichen Sinne, sondern eher der Unterstützungsfunktion zum reflektierten und ständigen Verbessern des eigenen Handelns.
Agilität ist eine große Chance, um Verhaltensweisen an aktuelle Rahmenbedingungen anzupassen. Eine Einführung agiler Arbeitsweisen sollte jedoch am geeigneten Anwendungsfall mit der optimalen Tiefe erfolgen und nicht nur an der agilen Oberfläche kratzen. Werte und Prinzipien müssen für die eigene Organisation gesetzt und aktiv gelebt werden. Das bedeutet aber auch, dass es für die Einführung und Erhöhung von Agilität im Unternehmen keinen Blueprint gibt, sondern lediglich Beispiele, was in einem anderen Unternehmen mit vergangenen Rahmenbedingungen funktioniert hat. Zumindest lässt sich aber eine bewährte Abfolge von Aktivitäten erkennen, die sicherstellt, dass alle relevanten Elemente bedacht und festgelegt werden:
Abbildung: Vorgehen vom E2E-Prozess zur Pilotierung mit Agile
Im End-to-End-Wertstrom den Engpass identifizieren, um dann das passende Vorgehen auszuwählen. Sofern Agilität als Mittel der Wahl zur Beseitigung des Engpasses ist, gilt es die entsprechenden Erfolgsvoraussetzungen zu schaffen – neben dem Zweck sowie individuellen Skills, sind Werte und Prinzipien genauso von Relevanz wie anpassungsfähige Prozesse und Strukturen. Dann gilt es zügig mit einem Piloten zu starten, um die ersten Annahmen zu testen und aus dem Vorgehen und den resultierenden Ergebnissen zu lernen und wieder von vorne zu beginnen.
2agilemanifesto.org, 2001